10
Gute Nacht, SpongeBob
»Ich habe am Wochenende mit deiner Mutter gesprochen«, erzählt Marcie mir am Montagmorgen.
»Wieso? Habe ich mich im Büro danebenbenommen?« Ich lasse meine vollgestopfte Aktentasche auf den Schreibtisch sinken.
»Sie macht sich Sorgen um deinen Vater, und sie macht sich Sorgen um dich.« Marcie sitzt auf der Ecke meines Schreibtischs, wobei der Saum ihrer Bluse hochrutscht und die aztekische Sonne entblößt, die genau über ihrer Pofalte eintätowiert ist. Man fragt sich, was Sean Zambuto von diesen kleinen Kunstwerken hält – der aztekischen Sonne, dem Tattoo auf dem Fußknöchel, dem chinesischen Schriftzeichen für Frieden, das aus ihrem Dekolleté aufragt. Ich könnte nie Marcies Weg der Körperkunst einschlagen – nicht, wenn ich je wieder von meiner Mutter nach Hause eingeladen werden will. Und das ist vielleicht auch gut so, denn ich sehe mich schon mit fünfzig: einsam und pummelig, und die aztekische Sonne über meiner Pofalte ist zu einem zerlaufenen blauen Halbmond erschlafft.
»Hast du nie ein schlechtes Gewissen, weil du dich ständig in mein Leben einmischst?«, frage ich Marcie.
»Nein. Außerdem hat deine Mutter mich angerufen.« Ungerührt sieht sie mich an. »Deine Mutter findet, du solltest es mit diesem Kerl vom SaveWay probieren.«
Das ärgert mich, genau wie Marcies Freundschaft mit meiner Mutter und die Tatsache, dass ich nicht an meinem eigenen Schreibtisch Platz nehmen kann, solange Marcie darauf herumhockt.
»Warum ziehst du nicht einfach bei Helen ein?«, frage ich bissig.
»Ich glaube nicht, dass Pulkowski das gefallen würde«, lacht sie. Doch sie geht nicht. Sie sitzt einfach da und starrt mich an, als wüsste sie etwas, das ich nicht weiß.
Ich erwarte Eleanors Ankunft in dem Kleinbus, der sie ins Büro zu unseren Treffen bringt, dem Idiotentransporter, wie Marcie ihn ohne jeden schlechten Hintergedanken nennt. Sie meint das ein bisschen so wie diese Rapper, die sich gegenseitig als Nigger bezeichnen. In Wahrheit bewundert sie meine Schützlinge nämlich zutiefst. In Marcies Augen ist man der Star, wenn man anders ist, wenn man in einer eigenen Sphäre lebt. Und auf niemanden trifft das so sehr zu wie auf Eleanor.
»Darf ich mich setzen?«, frage ich Marcie schließlich. Sie rutscht von meinem Schreibtisch und führt mir dabei wie jede Woche ihre Garderobe vor, dieses Mal gibt sie die durchgeknallte Klosterschülerin. Ihre weiße Bluse mit dem steifen Peter-Pan-Kragen hört mehrere Zentimeter über der tief sitzenden Taille ihres Faltenrocks auf. Man sieht ihren flachen, nackten Bauch und ein weiteres Tattoo, das keltische Kreuz, das seine Arme dramatisch unter ihrem Nabel ausbreitet. »Am Mittwoch hast du in der Mittagspause eine Verabredung«, sagt sie. »Mit mir.«
»Ach wirklich? Wo soll’s den hingehen?«
Sie lächelt betörend. »Sagen wir einfach mal, es ist Tag der offenen Tür.«
Ich will genauer nachfragen, aber sie wendet sich ab und geht zum Ausgang.
»Dein Schützling ist da«, sagt sie. »Sieht sonnig aus, so in Gelb.«
Eleanor marschiert herein, ohne mich anzusehen. Sie lässt sich auf den Bürostuhl aus Plastik plumpsen und fährt mit der Hand am Knie auf und ab, als würde sie Staubsaugen.
Die ganze letzte Woche ist Eleanor mit einer geheimnisvollen kleinen Sporttasche zur Arbeit erschienen. Gegen neun Uhr verschwindet sie in der Toilette der Praxis, die sie eben geschrubbt und gewienert hat, und zieht sich dort ein Nachthemd von SpongeBob und Garfield-Pantoffeln an.
»Eleanor«, sage ich und sehe sie über den Rand ihrer Akte hinweg an, »sag mir noch einmal, was du machst, wenn du mit deiner Arbeit in der Zahnarztpraxis fertig bist.«
Eleanor zwirbelt den Saum ihrer bunt geblümten Bluse zu kleinen Knäueln zusammen. »Ich mag Sie nicht«, sagt sie.
»Was sollst du machen, Eleanor, nachdem du den Staubsauger und den Eimer weggestellt hast?«
»Ich würde nie eine Torte für Sie backen.«
Das schmerzt ein wenig. In ihrer Wohngruppe bei Cooperative Living ist Eleanor für ihre Torten berühmt. Sie scheut sich nicht, alles mögliche – Selleriestangen, Kühlschrankmagnete oder Kinderspielzeug – in den Zuckerguss zu stecken, um sie aufzupeppen.
»Eleanor«, sage ich. »Du rufst zu Hause an. Du lässt es klingeln, bis die Betreuerin drangeht, und dann sagst du ihr, dass du abgeholt werden willst.«
»Nicht mal, wenn Sie mich drum bitten würden.« Sie verschränkt die Arme.
»Ich wiederhole: Du wählst die Telefonnummer, und zwar direkt auf Dr. Sharpes Telefon …«
»Nein, tu ich nicht! Nein, tu ich nicht!« Eleanor zieht den Saum ihrer Bluse übers Gesicht und entblößt weiche Brüste in einem rosa BH und einen in blaues Polyester gehüllten Bauch.
»Eleanor«, sage ich, »bitte zieh die Bluse wieder runter.«
»Nein!«
»Nun mach schon, Eleanor. Bitte.«
Langsam zieht sie ihr Oberteil mit wurstigen Downsyndrom-Händchen nach unten. Zuerst tauchen die überraschend hübschen braunen Mandelaugen auf. Dann die teigige Nase, die flachen Wangen, der große, offen stehende Mund. Mir kommt das alles nicht gerecht vor.
»Kannst du mir sagen, warum du so wütend bist?«, frage ich.
Eleanor zuckt die Achseln. Sie zieht die Schultern hoch, bis sie aussieht wie eine halslose Handpuppe. Ich weiß, warum sie wütend ist. Sie ist wütend, weil die Betreuerin der Nachtschicht wegen meines Anrufs und meines Berichts vielleicht ausgetauscht wird. Eleanor hasst Veränderungen. Lieber wird sie morgens von einer miesen Betreuerin begrüßt, statt von einer neuen. Es ist nicht leicht, immer wieder neu Zutrauen zu fassen. Ich kann das verstehen.
Ich wiederhole die Regeln für die Kleidung. »Warum kein Nachthemd bei der Arbeit?«, frage ich.
Eleanor wiegt sich auf ihrem Stuhl hin und her.
»Weil du dort nicht schläfst, sondern arbeitest«, erkläre ich.
Sie hört auf, sich zu wiegen, und setzt sich auf. »Ich hab da geschlafen!«
»Aber das war ein Fehler.«
»Ich hab da geschlafen! Hab ich wohl!«, beharrt Eleanor. »Die ganze Nacht.«
»Das kommt nicht wieder vor«, versichere ich ihr. Aber weiß ich das wirklich so genau?
Als unser Treffen vorbei ist, bringe ich Eleanor nach unten auf die Straße, wo sie abgeholt wird. Sie klettert in den Kleinbus, und ich folge ihr durch den Gang, vorbei an dem gleichgültigen Fahrer, der in einer Motorradzeitschrift liest, und an einem Mann im Rollstuhl, der nach Gemüsesuppe riecht. Ich kämpfe mit der blöden Metallschnalle an Eleanors Sicherheitsgurt und überlege mir, wie es wohl sein muss, neun Monate lang schwanger zu sein, um dann dieses exotische, liebenswürdige Mädchen mit dem breiten Gesicht zur Welt zu bringen – eine Tochter, die nie ein Auto fahren, nie aufs College gehen und mir nie eine Torte backen wird.
Ich schleppe mich wieder nach oben und mache an Marcies großem Schreibtisch halt, der Kommandobrücke mitten im Empfangsbereich von EPT.
»Also, wohin gehen wir am Mittwoch?«, frage ich.
»Das erfährst du am Mittwoch«, sagt sie und mustert mich argwöhnisch. »Was ist los mit dir?«
»Nichts.«
Ich schlurfe zurück in mein Büro. Kaum bin ich dort, schließe ich die Tür, lasse mich auf meinen Stuhl plumpsen und lege den Kopf auf den Schreibtisch. Ich bleibe in dieser Stellung, bis das Telefon klingelt und ich abnehme.
»Mickey Hamilton«, sagt eine tiefe Stimme.
Ich setze mich auf. Bevor er weiterredet, beschließe ich, es kurz zu machen.
»Mr Hamilton«, sage ich mit möglichst professioneller Stimme. »Anscheinend habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt. Aber im Moment ist mir nicht nach Verabredungen zumute.«
»In Ordnung«, sagt er. »Aber ich rufe wegen Milton an.«
Hier spricht der distanzierte Mr Hamilton. Er lässt mich einige Sekunden lang in meiner Scham schwelgen.
»Milton ist krank«, sagt er. »Er hat 39,4 Grad Fieber.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe immer ein Thermometer bei mir.«
»Ein Thermometer? Warum?«
»Für Fälle wie diesen. Ich habe auch immer eine Decke dabei.«
Ich setze mich noch gerader auf. Wie fürsorglich kann ein Mann sein?
»Miss Plow«, sagt er.
Ich hätte ahnen müssen, wie fürsorglich er ist, so, wie er im Supermarkt immer den Arm um Milton legt.
»Miss Plow.«
»Ja?«
»Milton«, sagt er. »Was machen wir jetzt mit Milton?«